Deutschland hat die mit Abstand niedrigste Schuldenquote unter den großen Industrienationen: Die Regierung arbeitet sich an einem Thema ab, das eigentlich keines ist.

Deutschland ist im internationalen Vergleich nicht überall vorne. Bei der Bildung nicht, bei der Qualität der öffentlichen Infrastruktur nicht. Beim Fußball sowieso nicht. Nur bei den Schulden, da macht uns niemand etwas vor. Wir haben nämlich in Wahrheit nicht so viele davon. Jedenfalls im Vergleich mit anderen Ländern.

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Hier ein paar Zahlen: Die deutsche Staatsschuldenquote betrug im vergangenen Jahr 66,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die britische 102,6 Prozent, die französische 111,1 Prozent, die amerikanische 121,7 Prozent, die japanische 261,3 Prozent. Deutschland hat unter den in der Gruppe der G7 zusammengeschlossenen führenden westlichen Industrienation die niedrigste Schuldenquote. Sie haben richtig gelesen: die niedrigste. Nicht die höchste. Und die weiteren Aussichten sind ebenfalls nicht sonderlich beunruhigend: Bis zum Jahr 2028 wird diese Quote nach Vorhersagen des Internationalen Währungsfonds auf 57,5 Prozent sinken. Sie fiele damit unter den Richtwert von 60 Prozent, der im Vertrag von Maastricht – dem Gründungsdokument der Währungsunion – festgelegt ist.

Jetzt kann man lange darüber streiten, ob es nicht besser wäre, wenn die Schulden noch niedriger wären. Vielleicht, das ist ein bisschen Ansichtssache. Andererseits wäre die Bahn vielleicht heute pünktlicher, wenn in den vergangenen Jahren nicht ständig gespart worden wäre. Und vielleicht wären dann auch die Schulen in einem besseren Zustand. Aber wofür der Staat das Geld ausgibt, ist das Ergebnis einer politischen Prioritätensetzung. Und in einer Demokratie werden Politiker gewählt. Insofern hat jedes Land vielleicht die Infrastruktur, die es verdient.

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Deutschland hat ein Schuldenbremsenproblem

Aus einer rein ökonomischen Perspektive allerdings hat Deutschland vielleicht ein Schuldenbremsenproblem, aber kein Schuldenproblem. Wenn Christian Lindner jetzt eine Haushaltssperre verkündet, dann hat das wenig damit zu tun, dass der Staat nicht mehr über genug Geld verfügt. Lindner könnte sich jederzeit problemlos einen zweistelligen Milliardenbetrag borgen. Die Schuldenquote würde sich dadurch vielleicht im Nachkommabereich verändern. Wir wären aber immer noch Sparweltmeister. Mit großem Abstand.

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Die traurige Wahrheit ist: Die Regierung droht sich gerade, an einem Problem zu zerlegen, das es eigentlich nicht gibt. Dieses Schauspiel muss schnell beendet werden. Es gibt genug Probleme, die es gibt.

  • klisklas@feddit.de
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    7 months ago

    Danke für den Artikel. Es ist echt zeitweise eine unglaubliche Hürde, dass so viele Leute ihr eigenes Giro Konto mit dem Staatshaushalt gleich setzten. Auch hier wieder gefühlt 50% der Kommentare mit diesem Narrativ (in prominenten Medien ganz zu schweigen). Die Frage sollte doch nicht sein ob man Schulden macht, sondern wofür und was für ein Ergebnis man von dem eingesetzten Geld erwartet.

    • Lotec4@feddit.de
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      7 months ago

      Und dann frag Mal die Leute was schlauer ist. 40 Jahre Miete zahlen und etwas sparen um ein Haus zu kaufen oder schulden machen und den Kredit zahlen und gleich das Haus zu kaufen

      • teichflamme@lemm.ee
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        7 months ago

        Der Vergleich hinkt schon extrem.

        Wenn du das gesparte Geld investierst, hast du je nach Kauf gute Chance deine Immobilie zu schlagen und bist gleichzeitig deutlich liquider und weniger gebunden.

        Die paar Kröten für die Miete frisst das Haus mit Instandhaltung und Nebenkosten locker auf.

    • Oozlebamboozle@feddit.de
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      7 months ago

      Ich glaube das Narrativ des Girokontos oder der schwäbischen Hausfrau wird doch wieder auch nach dem Schema eingesetzt: einfache Lösungen für komplexe Probleme. Das war doch schon immer das Ding von Konservativen bzw. rechten Parteien. Das komplette Volkswirtschaften so nicht funktionieren, lernt man eigentlich schon im Grundlagenmodul VWL. Und im Artikel wird ja auch schön dargestellt, dass in anderen Ländern die Schuldenquote bei weitem höher liegt und man trotzdem handlungsfähig bleibt. Selbst Firmen funktionieren heute nicht mehr nach diesem Prinzip und vor allem Start-ups können eine höhere Cash-Burn-Rate aufrecht erhalten, solange die weitere Unternehmensfinanzierung sichergestellt wird. Warum also soll das auch nicht für uns als Bundesrepublik gelten? Aber gerade in Deutschland, dem Girokontoland Nummer 1 scheint man es mal wieder besser zu wissen.

        • Oozlebamboozle@feddit.de
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          7 months ago

          Was ich ehrlich gesagt nicht als Nachteil sehe. Scheitern gehört nunmal dazu. Und Investoren wissen das auch. Solange das 10. Unternehmen, in das man investiert hat, alles kompensiert und außerdem noch ein Bonus bekommt, ist doch alles super.

          • gandalf_der_12te@feddit.de
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            7 months ago

            Ja, nur dass der Staat kein Start-up ist und auch keines sein darf.

            Der Staat sollte klar definierte Aufgaben haben, um die er sich kümmern muss. In meinen Augen gehört “Spekulationen über die Zukunft anstellen” und “Innovationen vorantreiben” nicht dazu.

            • Oozlebamboozle@feddit.de
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              7 months ago

              Dem würde ich klar wiedersprechen wollen! Gerade Forschungsinstitute wie die Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer etc. tun nichts anderes als überwiegend aus staatlichen Zuschüssen Innovationen und Grundlagenforschungen voranzutreiben. Die Firma Biontech ist das beste Beispiel für so eine positive Entwicklung, die eben mal eine komplette Stadt schuldenfrei machen konnte, finanziert am Anfang durch den Steuerzahler.

              Aus meiner Sicht MUSS der Staat vor allem in die Zukunft investieren (Bildung, Infrastruktur, neue Energieformen etc.) um nicht nur wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt zu sein, sondern eben auch dadurch durch mehr Steuereinnahmen wieder Gewinn herauszuschlagen.